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Diskurs

Die paradoxen Positionen des Dalai Lama zum Thema Homosexualität.

Wenn Sie jemanden bitten, eine Religion zu nennen, in der Hass gegen Homosexuelle ein zentraler Bestandteil der Moral ist, werden die meisten Menschen Christentum oder Islam nennen. Wenn Sie nach dem Gegenteil fragen, werden viele den Buddhismus als Beispiel einer toleranten Religion anführen.

Ausnahmen gibt es natürlich immer.

Desmond Tutu, der kürzlich verstorbene Erzbischof von Kapstadt, war eine tolerante Ausnahme in einem feindlichen christlichen Kontext. Er stellte immer wieder fest, dass die Diskriminierung von LBSTQIA+ nur eine weitere Form der Apartheid sei. Diesmal nicht aufgrund der Hautfarbe, sondern aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtervielfalt, „Sexual Orientation and Gender Identity“, kurz „SOGI“. Aber für manche Menschen ist Tutus guter Freund und Friedensnobelpreisträger Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama von Tibet, eine intolerante Ausnahme in einem freundlichen buddhistischen Kontext.

Es ist in der Tat verlockend zu glauben, dass es zwei verschiedene Dalai Lama gibt, einen toleranten und einen intoleranten. Auf der einen Seite hat er sich wie sein Freund Tutu immer für die uneingeschränkte Anwendung der Menschenrechte für alle eingesetzt, einschließlich der SOGI. Er unterstützt sogar die gleichgeschlechtliche Ehe. Eine einsame Stimme der Akzeptanz unter den religiösen Führern der Welt. Andererseits betont derselbe Dalai Lama, dass Anal- und Oralsex für (tibetische) Buddhisten „unangemessene“ sexuelle Handlungen seien. Diese Kontroverse begann 1993 mit zwei Interviews. Eines von ihnen erschien 1994 unter dem Titel „Hello, Dalai“ in der amerikanischen Schwulenzeitschrift „OUT“. Das andere 1996 in dem Buch „Beyond Dogma“.

Wer ist also der echte Dalai Lama?

Die Positionen des Dalai Lama sind nur ein Paradoxon mit einer westlichen Weltanschauung. Seit Jahrhunderten ist unsere Kultur der theistischen Ideologie unterworfen, in der es einen Schöpfer gibt, der sowohl allmächtig als auch unendlich gerecht ist. Die Anhänger dieser Ideologie glauben, dass seine Gebote der gesamten Gesellschaft auferlegt werden müssen, unabhängig davon, ob die Menschen diese religiösen Ansichten teilen oder nicht.

In dieser Kultur bedeutete, schwul oder lesbisch zu sein, abgelehnt zu werden: Man wurde schikaniert und ausgegrenzt, musste sich verstecken und sogar fürchten, eingesperrt oder als geisteskrank betrachtet zu werden. Was jedoch vollkommen ungewöhnlich war, war ein religiöses Oberhaupt, das nicht versucht, die Regeln seiner Gemeinschaft anderen aufzuzwingen. Der Ratschlag des Dalai Lama in OUT war in jedem folgenden Interview derselbe: Sex, einschließlich homosexueller Sex, sei in Ordnung, solange beide Partner damit einverstanden seien, beide nicht durch ein Keuschheitsgelübde gebunden seien und die Aktivität anderen nicht schade.

Dies löste in der queeren Gemeinschaft eine wahre Welle der Begeisterung aus: „Wir kopierten den Artikel, schickten ihn nach Hause, schickten ihn ... überall hin! Wir druckten ihn in Gemeindezeitschriften nach, die ihren Weg um die Welt fanden. Ein wichtiger spiritueller Führer [...] hatte endlich gesagt, wie es ist. Dachten wir“, schrieb Steve Peskind in der buddhistischen Zeitschrift „Tricycle“ im März 1998.

Dalai

Aber der Dalai Lama hatte sich auf eine säkulare Moral bezogen, die eine Gesellschaft anwenden sollte, um die Diskriminierung ihrer Bürger zu vermeiden. Was den Buddhismus anbelangt, so fungiert der Dalai Lama als Bewahrer der tibetischen Traditionen. Und diese enthält einige alte konservative Gebote. Die daraus resultierende Enttäuschung der Buddhisten, die sich als Teil der Gemeinschaft der LBSTQIA+ sehen, spiegelt einen weiteren kulturellen Unterschied wider: Innerhalb der theistischen Ideologie müssen Gottes Gebote immer befolgt werden, unabhängig vom Kontext. Wenn man sie nicht befolgt, ist man böse und wird verstoßen.

Im Buddhismus sind Sittengesetze Übungsrichtlinien, um zu lernen, welche Handlungen im spirituellen Prozess geschickt oder ungeschickt sind. Sie nicht zu befolgen, führt nicht zu ewiger Verdammnis und ist sicherlich kein Grund für Bestrafung oder soziale Diskriminierung. Der Dalai Lama wiederholte mehrmals, dass man nicht aufhöre, Buddhist zu sein, wenn man nicht alle moralischen Vorschriften akzeptiere oder befolge. Dies mag von einigen als Fehlverhalten angesehen werden, aber der Dharma sei für alle da: „Wenn eine Person den Buddha akzeptiert [...] ist sie automatisch ein Buddhist.“

Woher kommen diese tibetischen Gelübde?

Andere buddhistische Traditionen haben solche Vorschriften nicht. Und sie gehen auch nicht auf den historischen Buddha zurück, der nur sagte, dass Laienbuddhisten „sexuelles Fehlverhalten“ vermeiden sollten. Das bedeutet, dass sie durch sexuelle Handlungen keinen Schaden anrichten sollten.

In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung sahen sich die indischen buddhistischen Mönche mit einer hinduistischen Kultur konfrontiert, die große sexuelle Freiheiten zuließ. Freiheiten, die durch die Bewahrung des Kamasutras auch in der jetzigen Zeit noch bekannt sind. Es wird allgemein angenommen, dass sie beweisen wollten, dass die buddhistischen Praktiken tugendhafter waren als die ihrer hinduistischen Zeitgenossen. In der Folge lehnten sie zum Beispiel Oral- und Analverkehr ab. Die tibetischen Lehrer übernahmen diese Regeln.

Es ist die Pflicht des Dalai Lama, die tibetischen Traditionen zu verteidigen. Aber er sagte auch, er sei sich bewusst, dass einige Gebote Teil eines spezifischen kulturellen Kontextes seien. Sie wurden viele Jahrhunderte nach der Zeit von Buddha und vor unserer Zeit entwickelt. Darüber hinaus können solche Regeln geändert werden, zumindest theoretisch, jedoch würde das die Zustimmung aller tibetischen Sanghas erfordern.

Es gibt die Hoffnung, dass sie in diesem Prozess nicht mehr auf das hinduistische Kamasutra reagieren, sondern sich von der buddhistischen Vasettha-Sutta inspirieren lassen. Diese spricht von denselben Prinzipien von Apartheid, auf die sich Erzbischof Tutu bezog: „Bei den Menschen gibt es keine Geburtsunterschiede, die sie kennzeichnen: weder an den Haaren noch am Kopf, weder an den Ohren noch an den Augen [...], weder an den Geschlechtsorganen noch im Weg der Paarung […], weder in ihrer Hautfarbe noch in der Stimme [...] Die Unterscheidung zwischen Menschen ist eine rein verbale Bezeichnung.“


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 120: „Lebendiger Buddhismus"

UW120


Übersetzung Ester Platzer

Foto Text und Teaser © Christopher Michel/Flick

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Dr. Michael D. Vermeulen

Dr. Michael D. Vermeulen

Dr. Michael D. Vermeulen ist Vorsitzender und Mitbegründer der Rainbow Sangha und war von 2011 bis 2015 der Vertreter der Europäischen Buddhistischen Union bei der Europäischen Union. Seitdem sprach er auf mehreren Konferenzen der Vereinten Nationen zu den Themen Menschenrechte, Queer-Buddhismus ...
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