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Leben

Bewusst zuhören, den Strom an Gedanken, Emotionen sowie den Drang, alles zu kommentieren, unterbrechen und durch innere Stille es schaffen, sich ganz auf sein Gegenüber einzulassen.

Wir saßen im Kreis, zwanzig Gäste, ein paar Nonnen und Mönche. Ein Sommermorgen Anfang der 1990er-Jahre. Plum Village in der Dordogne, wo Thich Nhat Hanh im Exil lebte, war zu jener Zeit ein kleines schlichtes Kloster und Thich Nhat Hanh noch nicht der weltberühmte Meister, der er kurze Zeit später sein sollte. Als ich die handgeschriebene Einladung zu dieser „tea ceremony with Thay“ (Beginn um sechs Uhr morgens!) erhielt, freute ich mich auf eine gute Tasse Tee und eine Begegnung mit meinem Lehrer im kleinen Kreis.

Die folgenden Stunden sollten die intensivste Lektion über das Sprechen und Zuhören werden, die ich je bekommen hatte.

Thich Nhat Hanh bat uns, von unseren tiefsten Schmerzen zu erzählen. Erschrocken blickte ich mich um: Vor 25 Menschen, die ich nicht kannte, sollte ich mein Herz öffnen? Die anderen wirkten genauso erschrocken wie ich. Aber da saß dieser Mönch in seiner braunen Robe, ganz ruhig hielt er die Teetasse in beiden Händen und sah uns der Reihe nach an. Nicht mit dem erwartungsvollen Blick, den ein Moderator einem zögernden Gast zuwerfen würde, auch nicht mit dem ermunternden Blick eines Therapeuten. Es war ein offener Blick voller Weite, der bereit war, alles zu empfangen, was sich hier ereignen würde. Ohne Bewertung, ohne vorgefasste Meinung, ohne Urteil. Ich sah, dass Thay, wie wir ihn nennen, uns wirklich kennenlernen wollte.

stille

Dann begannen wir zu erzählen. Eine Frau sprach davon, wie sie von ihrem Vater missbraucht wurde; eine andere, wie man ihr als Kind zur Strafe die Hand auf die heiße Herdplatte gedrückt hatte. Ein Mann erzählte von seinem prügelnden Vater, ein anderer von seiner Aids-Erkrankung. Und ein ehemaliger amerikanischer Vietnam-Soldat erzählte, wie er eine Handgranate in Brot versteckt und zugesehen hatte, wie die Granate das hungrig in das Brot beißende vietnamesische Kind zerfetzte. Das Kind des Feindes, den zu besiegen er ins Land gekommen war. Der Vietnam-Veteran war Claude An Shin Thomas, der damals in Plum Village lebte und sich heute in Seminaren und Vorträgen für Frieden und Versöhnung einsetzt.

In jedem Gespräch läuft eine Unterströmung an Ungesagtem, oft auch Unsagbarem mit.

Aus einigen Menschen brachen die tief vergrabenen Erinnerungen sturzbachartig hervor; andere klaubten sie mühsam Wort für Wort zusammen – und jedes Wort tropfte in die Stille, wo es wie in einem Teich immer größere Ringe um sich zog. Niemand wurde unterbrochen. Jeder durfte sagen, was und wie er oder sie es wollte. Thich Nhat Hanh schwieg. Er sah einfach jeden, der sprach, unverwandt an und sein ruhiger Blick hieß unsere Geschichten willkommen. Die Stille in seinem Herzen war das Gefäß, das all die Grausamkeiten, Verletzungen, Wunden und Narben aufnehmen und in der Tiefe bergen konnte. Das war mehr als genug; jeder Kommentar oder gar Ratschlag wäre weniger gewesen.

Als wir benommen in den heißen Sommertag traten, wurde gerade das Mittagessen aufgetragen. Wir hatten, ohne es zu bemerken, sechs Stunden miteinander verbracht; es war die bewegendste Teestunde meines Lebens.

Seit ein paar Jahren spüre ich einen Widerwillen gegen die allgegenwärtige Aufforderung zur Kommunikation. „Wir müssen miteinander reden!“ ist der als Imperativ vorgetragene Zauberspruch, der imstande sein soll, jede Art von Spaltung in unserer Gesellschaft und unserem Privatleben zu schließen. In den Medien, der Politik, unter Kollegen und im Freundeskreis wird ständig diskutiert und debattiert. Warum wirkt der Zauberspruch dann nicht? Weil die meisten unserer Gespräche nur ein Austausch von Meinungen sind. Wir „haben“ unsere Meinungen wie Möbelstücke, und so unverrückbar sind sie auch oft. Wir brauchen nicht noch mehr Gerede – wir müssen lernen, einander zuzuhören. Und das ist weit anspruchsvoller, als einfach mal für ein paar Minuten den Mund zu halten.

stille

Der Religionsphilosoph Martin Buber erzählte, wie er einmal „an einem Vormittag nach einem Morgen ‚religiöser‘ Begeisterung“ Besuch von einem, ihm unbekannten jungen Mannes erhielt. „Ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte.“ Kurze Zeit später erfuhr Buber, dass sich der junge Mann das Leben genommen hatte. Da wurde Buber erschüttert klar, dass er den unausgesprochenen Hilferuf überhört hatte. Tiefe Zuwendung und Achtsamkeit hätten möglicherweise dieses Leben retten können.

Solange unser Geist mit unseren eigenen Gedanken, Emotionen und Gefühlen beschäftigt ist, hören wir den anderen nur „mit halbem Ohr“. Jeder Mensch, der sich uns mitteilen will, hat jedoch Anspruch auf unser ganzes Ohr, auf unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Person, die uns gegenübersitzt, ist in diesem Moment die wichtigste auf der Welt. Sie sendet Signale aus, die ihr selbst gar nicht bewusst sind. In jedem Gespräch läuft eine Unterströmung an Ungesagtem, oft auch Unsagbarem mit. Vielleicht erkennen wir es an den ineinander verknoteten Händen, dem unruhig wandernden Blick, dem Versprecher. All dies sind wichtige Botschaften, gesendet auf einer Frequenz, die nur von einem hochfeinen Instrument empfangen und entschlüsselt werden kann. Uns steht dieses Instrument zur Verfügung. Es ist die innere Stille.

Stille hat für viele Menschen etwas Bedrohliches. Sie kann Ängste wecken, an Sterben und Tod erinnern. In meinen Seminaren und Retreats wird geschwiegen, was manchen Teilnehmern, die zum ersten Mal dabei sind, Unbehagen bereitet. Ich kann das verstehen. In vielen Familien wird Schweigen als Strafe eingesetzt. Auch ich erinnere mich an Mittagessen, die in eisigem Schweigen verliefen. Jeder meiner Sätze prallte ab an den versteinerten Mienen meiner Eltern, die mir zeigten, dass ich irgendetwas falsch gemacht hatte. Ich empfing die Botschaft: Du gehörst nicht mehr dazu, an diesen Tisch, vor diesen Teller, in diese Familie.

Wenn Schweigen – fast immer unbewusst – mit Strafe und Ausgeschlossensein aus der Gemeinschaft assoziiert wird, darf der Gesprächsfaden auf keinen Fall reißen. Dann geht es bei unserem Gerede weniger um den Inhalt, als darum, die Dämonen der Kindheit zu bannen. Wie die Geisterbeschwörer der indigenen Völker machen wir Krach; zwar nicht mit Rasseln und Trommeln, aber mit Worten. Und wenn wir dann aus irgendwelchen Gründen den Mund halten sollen, sind wir dem Ansturm unserer inneren Monologe ausgesetzt.

Martin Buber erwähnt bewusst, dass er an jenem für ihn und seinen Gast schicksalhaften Tag „in ‚religiöser‘ Begeisterung“ gewesen sei. Es sind nicht nur Kummer, Angst und düstere Gedanken, die unsere innere Stille stören, sondern auch Euphorie. Das Schweigen, das in den meisten Meditations-Retreats obligatorisch ist, hat die Kraft, allmählich alle aufgewühlten Emotionen zu beruhigen. Erst wenn der Geist, wie es das Zen ausdrückt, zu einem „klaren Spiegel“ geworden ist, können wir in der Tiefe wahrnehmen, können wirklich hören, sehen und verstehen.

Stille hat für viele Menschen etwas Bedrohliches.

 Die Lyrikerin Hilde Domin hat den schönen Ausdruck „atmendes Wort“ geprägt. Ihre Gedichte leben von äußerster Schlichtheit; sie verzichtet auf jedes Adjektiv, das ein Wort einengen würde. Auch in einem Gespräch bekommt das Wort, das der andere mir sagt, in meiner inneren Stille den Atemraum, den es braucht, um sich in seiner Bedeutungstiefe entfalten zu können, unbehindert von meiner Meinung. Aber die innere Stille ist nicht nur passiv empfangend, sie beschenkt uns oft mit überraschenden Erkenntnissen und Ideen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 115: „Rede mit mir!"

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Rumi sagt: „Stille ist die Sprache Gottes. Alles andere ist armselige Übersetzung.“ Stille ist unser tiefstes, unser wahres Wesen. Wir brauchen sie nicht herzustellen, sie ist schon da und begleitet uns überallhin. Irgendwann wird es nicht mehr nötig sein, ins Schweigen zu gehen, um sie berühren zu können. Dann spricht, wenn wir das Wort ergreifen, eine andere Instanz aus uns. Nicht mehr das verletzte Kind, die betrogene Frau oder der gescheiterte Geschäftsmann, sondern die Weisheit unseres wahren Wesens. Ein Satz, der aus der inneren Stille gesprochen wird, kann selbst jede Auseinandersetzung mit Ruhe und Klarheit erfüllen. Jetzt kommen wir wirklich miteinander ins Gespräch.

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Margrit Irgang

Margrit Irgang

Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, praktiziert Zen seit 1984, seit 1992 bei Thich Nhat Hanh.Sie leitet Retreats, schreibt Bücher und für Rundfunksendungen zu den Themen Spiritualität und Achtsamkeit und bloggt auf:www.margrit-irgang.blogspot.de.
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