Haltung zeigen statt Kalorien zählen

Schon seit Jahrzehnten wird versucht, Menschen mit Regeln, Tipps und Vorschlägen dazu zu bringen, sich gesünder zu verhalten. Die sozialen Medien sind voller Empfehlungen zu Gesundheitsthemen. Obwohl jedes Kind schon weiß, worauf es im Prinzip ankommt, fällt es den meisten Menschen schwer, sich entsprechend zu verhalten. Alle Bemühungen haben bisher nichts gebracht. Doch warum handelt der Mensch so unvernünftig? Der Grund ist einfach: Der Mensch ist ein emotionales Wesen, das sich im Alltag impulsiv verhält. Vor der Frage, wie man Menschen dazu bewegt, gesund zu leben, ist es zunächst von Bedeutung zu klären, was gesundes Verhalten überhaupt bedeutet.

Gesundheit darf Spaß machen.

Was man im alltäglichen Sprachgebrauch als „Balance“ oder als „gesunder Umgang“ bezeichnet, ist möglicherweise das Einzige, was man im Bereich Gesundheit wirklich empfehlen kann: nicht zu viel, nicht zu wenig und nicht zu einseitig. Während man auf Instagram über Zucker, Uhrzeiten, Trainingsformen und Diäten diskutiert, schütteln viele Fachleute mit dem Kopf. Schließlich hat „Bauch, Beine, Po“ nur wenig mit Gesundheit zu tun. Gutes Aussehen, ein flacher Bauch, die nächste Bikinifigur: Dabei geht es um Ästhetik, und man darf nicht vergessen, dass es – zum Beispiel zum Abnehmen – hier auch sehr ungesunde Wege gibt. Das heutige Gesundheitsverständnis erstreckt sich also nicht nur über die klassischen Bereiche wie Rauchen, Bewegungsmangel oder Übergewicht.

Das Verlangen, sich immer richtig und möglichst gesund zu verhalten, und der Wunsch, den perfekten Körper zu haben, kann ein ungesundes Maß annehmen. Denn immer dann, wenn es extrem wird, wird es zum Problem – egal bei welchem Thema. Insbesondere in den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass Gesundheit in den Medien immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Gleichzeitig hat die Forderung nach einem gesunden Lebenswandel bei vielen Menschen keinen guten Ruf. In den meisten Köpfen ist er mit negativen Aspekten wie Anstrengung, Disziplin und Selbstkontrolle assoziiert. Man fühlt sich unter Druck gesetzt, wenn man ständig gesagt bekommt, was man tun soll, dass man sich falsch verhält und noch nicht genug machen würde. Dann regt sich Widerstand.

Wir haben die Erlaubnis, uns unvernünftig verhalten zu dürfen.

Das Angebot „Sixpack in sechs Minuten“ klingt sexy und effizient. Die Feststellung „Zucker ist Gift“ ist natürlich aufregender als die Empfehlung „Zucker ist erlaubt, sollte jedoch in Maßen genossen werden“. Immer dann, wenn es „bunt“, „laut“ und „krass“ wird, hat es nur noch selten etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Aber je sensationeller die Meldung ist, desto größer die Aufmerksamkeit. Das ist gut fürs Geschäft. Der Wunsch nach einfachen Lösungen, nach klar definierten Grenzen, Regeln und Verboten ist bei uns Menschen stark ausgeprägt. Sich nachhaltig mit den eigenen Gewohnheiten auseinanderzusetzen, um langfristig etwas zu verändern, ist dagegen weniger beliebt. Auch in der Fitnessbranche sind Sport- und Ernährungspläne weitverbreitet. Regeln bieten Sicherheit und Struktur. Und plötzlich ersetzt der Ernährungsplan die Aufmerksamkeit für die eigenen Körpersignale. Man isst nach Plan, statt dem eigenen Hungergefühl und der Sättigung zu vertrauen.

Dass so viele Menschen beim Thema Gesundheit den Eindruck haben, ausschließlich auf Zahlen und Daten achten und sich einschränken zu müssen, dass sie glauben, keinen Spaß mehr haben zu dürfen, ist das eigentliche Problem. Dadurch wird der gesunde Lebensstil zu Arbeit. Dabei soll es doch um Wohlbefinden gehen. Gesundheit darf Spaß machen. Es geht nicht darum, sich irgendwelchen Verboten unterzuordnen oder nach einem fremdbestimmten Regelsystem zu leben. Wir haben die Erlaubnis, uns unvernünftig verhalten zu dürfen, ohne dafür gleich ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Vielmehr geht es darum, ein Bewusstsein zu entwickeln, sich selbst zu reflektieren und achtsam zu sein. Am Ende ist alles eine Frage von Prioritäten und von verantwortungsvollen Entscheidungen jenseits von Extremen. Ein täglicher kurzer Spaziergang ist manchmal besser, als sich zwei Mal in der Woche in einem Fitnessstudio völlig zu verausgaben.

Es gibt nicht das eine richtige Gesundheitsprogramm für jeden.

Worauf die Aufmerksamkeit gelenkt werden darf, sind der eigene Körper und die eigenen Bedürfnisse. Wenn wir achtsam sind, spüren wir anhand von Körpersignalen, wann wir essen, trinken, schlafen oder uns bewegen sollten. Ziel ist es, diesen Signalen ihre verdiente Aufmerksamkeit zu schenken, um sich bedarfsorientiert zu verhalten. Kinder tun das ganz automatisch. Die meisten Kinder haben ein stark ausgeprägtes Körpergefühl. Sie sind erlebnisorientiert und verhalten sich intuitiv. Ein sehr natürlicher Zustand, den Erwachsene im Laufe der Jahre oft verlernt haben. Es gibt nicht das eine richtige Gesundheitsprogramm für jeden. Denn unsere Bedürfnisse und das, was wir jeweils als Wohlbefinden wahrnehmen, sind sehr individuell. Es gibt aber die richtigen Fragen, die wir uns regelmäßig stellen können: „Welchen Stellenwert haben meine Gesundheit und mein Wohlbefinden? Wofür möchte ich mir mehr Zeit nehmen? Was tut mir langfristig gut? Was bin ich mir wert?“

Gesundheit ist eine Frage der Haltung und nichts, wofür es eine Bedienungsanleitung braucht.

Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 118: „Zufriedenheit"

Das Thema Gesundheit hat sich in den letzten Jahren stark zu einer Art Wissenschaft entwickelt. Für den Einzelnen ist es aber zielführender, sich achtsam mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen, statt mit Kalorientabellen auseinanderzusetzen. Gesundheit ist eine Frage der Haltung und nichts, wofür es eine Bedienungsanleitung braucht. Letztlich geht es um Selbstfürsorge, Selbstachtung und Selbstwahrnehmung. Dann braucht es auch keine Gesundheitsempfehlungen mehr.

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