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Frag die Dharma-Lehrenden

Was genau unterscheidet meine Meditationsmethodik von einer Dissoziation?

Ich bin Anfängerin in der Meditation. Ich habe gelernt, man soll Gedanken und Gefühle betrachten, wie sie aufsteigen, eine Weile da sind und wieder vergehen. Ich stelle mir dann vor, ich betrachte diese wie im Kino auf einer Leinwand. Das funktioniert meist recht gut. Gleichzeitig bin ich etwas besorgt, weil ich den Unterschied zu einer Dissoziation nicht verstehe. Bei dieser Art von psychischer Störung ist die eigene Identität zerbrochen. Irgendwie spalte ich mich ja beim Meditieren auch auf. Einmal bin ich die Betrachterin und gleichzeitig die, deren Gedanken und Gefühle betrachtet werden. Was genau unterscheidet diese Meditationsmethodik von einer Dissoziation?

Lisa Wiesinger

UW-Leserinnen und -Leser wenden sich mit ihren Anliegen an bekannte buddhistische Lehrende. Schreiben Sie uns: fragen@ursachewirkung.com

Dissoziation

Liebe Frau Wiesinger,

viele Achtsamkeitsübungen regen dazu an, das Erleben ‚einfach‘ nur zu betrachten. Die Vorteile dieser Praxis sind vielfältig. Sie hilft uns, zu verstehen, was zu Ruhe beiträgt und was Unruhe schafft. Sie ist eine Einladung, vom Tun ins Sein zu kommen, lehrt Akzeptanz und Geduld und schult die Impulskontrolle.

Die Vorstellung einer solchen betrachtenden Haltung mag der eines Vogels gleichen, der aus großer Höhe auf etwas herabblickt, ohne damit in Kontakt zu kommen. Ein solches Bild der Distanz lässt den berechtigten Einwand aufkommen, ob wir so nicht Gefahr laufen, uns bewusst oder unbewusst vom Erlebten abzuwenden.

Unangenehme Erfahrungen auszublenden, liegt zwar nahe, ist oft aber nur eine kurzfristige Lösung. In der Achtsamkeit, wie ich sie verstehe, wird daher das genaue Gegenteil praktiziert: Wir gehen auf das Erleben zu. Im unmittelbaren Kontakt mit dem, was geschieht, entsteht keine distanzierte Schau von oben, sondern ein einfühlendes Erleben und Erspüren des Geschehens. In diesem unmittelbaren Kontakt können andere Dynamiken wie Bewertung oder Kommentar zum Erliegen kommen. So auch die Selbstreferenz, die einen Dualismus suggeriert, in dem ein ‚Ich‘ etwas erlebt und betrachtet.

Im Gegensatz zur Dissoziation nähert man sich dem Erleben an. Behutsamkeit ist geboten, wenn dies mit körperlichem oder psychischem Schmerz verbunden ist. Die Intensität des unmittelbar Erlebten kann überfordern, im Extremfall bis zur Retraumatisierung führen. Angst oder andere starke Reaktionen sind Anzeichen dafür, dass es angemessen wäre, bewusst Raum um dieses Erleben zu schaffen, indem wir die Wahrnehmung erweitern und zum Beispiel andere körperliche Empfindungen, Sinnesreize oder den Raum um uns miteinbeziehen.

Achtsamkeit setzt eine Haltung zum Erleben voraus, die ein gelassenes Beobachten über längere Zeit hinweg ermöglicht. Indizien dafür, dass dies gelingt, sind mehr Ruhe und Klarsicht, aber auch die Möglichkeit, mit dem, was erlebt wird, mitfühlend und geduldig umzugehen.

Herzlich, Ihre Ulla König


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 122: „Resilienz"

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Ulla König ist Achtsamkeits- und Meditationslehrerin aus dem Raum Stuttgart. Als Mutter zweier Kinder liegt ihr eine alltagsnahe Praxis am Herzen, die sie in Seminarhäusern in ganz Deutschland sowie online vermittelt. www.ulla-koenig.com

 

Bild Teaser & Header © Pixabay

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