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Was bedeutet heute noch Freundschaft in einer Welt, die von sozialen Medien (Likes, Fol­low­ern) geprägt ist?

MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“  findet ihr mehr Informationen dazu.

Antwort MoonHee:

In der modernen und digitalen Welt gilt der als erfolgreich und beliebt, der gut vernetzt ist. Eine gewisse Anzahl von Followern und Likes scheint menschliche Schwächen und Inkompetenzen auszugleichen. Vor allem die zunehmende Unverbindlichkeit und Anonymität werden durch soziale Medien verschleiert. Heutzutage kann man mit der ganzen Welt bekannt und befreundet sein, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückt. Daumen hoch oder ein Herzchen machen mich zu jedermanns Freund, ohne dass ich selbst etwas von mir preisgeben muss. Aber wie der griechische Philosoph Aristoteles schon sagte: „Ein Freund aller ist ein Freund von keinem.“ Modern ausgedrückt: Gut vernetzt, aber einsam. Früher hatte man Freunde, heute hat man Fol­low­er.

Es ist wissenschaftlich erforscht, dass soziale Medien nicht verbinden, sondern die soziale Verbundenheit schwächen. Trotz des oder gerade durch das Internet nimmt das Gefühl der Einsamkeit zu. Die moderne Welt ist gemeinsam einsam. Das Leben im Onlinemodus raubt uns die Zeit und die Kraft für das wahre Leben und somit die Chance auf wahre Begegnung und wechselseitige Nähe. Das American Journal of Preventive Medicine veröffentlichte 2017 eine Studie der University of Pittsburgh, die besagt, dass schon zwei Stunden Internet zur sozialen Vereinsamung führen. Je stärker der Internetkonsum, desto größer die soziale Isolation.

Einsamkeit ist ein zunehmendes gesellschaftliches Problem mit verheerenden Folgen. In Deutschland leiden ca.10 bis 20 % an chronischer Einsamkeit. Unter Berücksichtigung der Angaben derjenigen, die sich manchmal einsam fühlen, steigt die Zahl auf 30 %. Alte Menschen, aber auch junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 29 Jahren gehören zu den vulnerablen Gruppen. Der Deutsche Bundestag verweist auf die gravierenden negativen Folgen für Gesundheit und Lebenserwartung. Chronische Einsamkeit verursacht neben steigenden Suizidraten hohe Gesamtkosten für die betroffene Person und die Gesellschaft.[1] Auch Brian Primack, der Leiter der oben genannten Studie, macht auf das zunehmende Problem aufmerksam: „Es ist ein wichtiges Problem, das wir hier erforschen, denn psychische Probleme und soziale Isolation verbreiten sich wie eine Epidemie unter jungen Erwachsenen.“[2] Mittlerweile ist Suizid bei jungen Menschen (15–29 Jahren) nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. Alarmierend ist die Zahl der Suizidversuche, die sich auf mindestens 100.000 in Deutschland beläuft.[3] In Großbritannien gibt es seit 2018 ein Ministerium für Einsamkeit. Man spricht von einer Epidemie im Verborgenen.

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Im Vergleich zu anderen Lebewesen brauchen Menschen nicht nur andere Menschen, sie brauchen echte Freundschaften. Auch wenn wir alle Güter hätten, so würde doch niemand ein Leben ohne Freunde wählen, so Aristoteles. Aber er weiß auch: „Der Wunsch, Freunde zu sein, geht schnell, aber Freundschaft ist eine langsam reifende Frucht.“ Für den Philosophen sind Freundschaften nicht nur notwendig, sondern auch werthaft – nicht nur für das Individuum, sondern auch für den Staat. Denn wo Freundschaft ist, ist auch Tugend, und wo Tugend ist, ist auch Gerechtigkeit. Wer Freund ist, ist gerecht; Freunde sind also gut. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass schlechte Menschen keine Freunde sein können. Somit kann der Tyrann keine Freunde haben. Echte Freundschaft beruht auf Liebe und Wechselseitigkeit. Der aristotelische Freundschaftsbegriff ist eng mit der aristotelischen Tugendethik verknüpft. In der Nikomachischen Ethik legt Aristoteles drei Arten von Freundschaften dar: die nützliche, die lustvolle und die vollkommene Freundschaft. Die ersten zwei Freundschaften vergehen alsbald, wenn Nutzen oder Lust nicht mehr vorhanden sind. Nutzen- oder Lustfreundschaften dienen als Interessengemeinschaften Zwecken und nicht der Freundschaft an sich. Da diese zwei Freundschaftsformen in unserer Gesellschaft dominieren, sind die meisten Freundschaften nicht tief und nicht von Dauer. Primär geht es um das eigene Vorankommen, Wohl und Vergnügen und weniger um ein Mit- und Füreinander. Aus diesem Grund sind soziale Medien so erfolgreich. Soziale Medien entzweien nicht, betreiben kein Mobbing oder halten uns stundenlang online gebannt – wir, die Nutzer, sind es, die all das tun oder es zulassen.

Die negative Entwicklung des Internets liegt bei uns. Wären wir andere Menschen, mit anderen Werten, dann gäbe es kein social dilemma. Die Ursache des sozialen Dilemmas ist die um sich greifende Beziehungsunfähigkeit. Die sozialen Medien bieten nur den Schauplatz dafür. Als Konsummenschen sind wir zu Voyeuren und Exhibitionisten mutiert. Der moderne Mensch ist träge, oberflächlich und unverbindlich; er lebt ein passives und fremdbestimmtes Leben, was einer der Hauptgründe für Vereinsamung ist. Wäre dem nicht so, hätten soziale Medien, Netflix und Co. keine solche Macht über uns. Ein Freund aller mag ein Freund von keinem sein, doch wer mit sich selbst nicht Freund ist, ist es ebenso nicht. Und wer mit sich selbst nicht Freund ist, ist verständlicherweise auch nicht gut. Falsche Werte, Anonymität, gegenseitiges Bewerten und Vergleichen, gepaart mit noch mehr Konsum, Neid und Eifersucht sind unschöne Begleiterscheinungen dieses fehlgeleiteten Lebensstils.

Um der weltweiten Vereinsamung entgegenzuwirken und echte Freundschaften zu fördern, muss der zunehmenden Dekadenz Einhalt geboten werden. Dafür bedarf es eines angemessenen Verständnisses für die richtigen Werte. Egoismus und Werteverfall gehen Hand in Hand. Dort wo Werte lebendig sind, ist auch der Mensch lebendig. Der lebendige Mensch wird von einem aufrichtigen Freundschafts- und Gemeinschaftssinn, von Gegenseitigkeit und Verbundenheit getragen. Diese dritte Art der Freundschaft bezeichnet Aristoteles als die vollkommene Freundschaft. Hier werden die Eigenschaften des anderen geliebt und nicht der Nutzen oder die Lust. Die Voraussetzung einer solchen Freundschaft ist Vertrautheit, und die kommt weder über Nacht, noch indem man sich einander fremd bleibt. So selten diese Freundschaft auch sein mag, bleibt sie einem allerdings lebenslang erhalten. In der vollkommenen Freundschaft nimmt Zeit neben der Vertrautheit einen wichtigen Stellenwert ein. Denn die Gutheit, deren es in einer wahren Freundschaft bedarf, ist etwas Beständiges.[4] Der eine weiß und fühlt um den anderen, weil die Freunde an sich gut sind. Solange man an sich gut ist, bleibt man auch Freund. In der Nikomachischen Ethik lesen wir: „Die vollkommene (teleios) Freundschaft aber ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut (agathos) und gleich an Tugend (kat‘areten) sind. Denn diese wünschen in gleicher Weise Gutes füreinander, insofern sie gut sind, und sie sind als solche gut. Diejenigen aber, die den Freunden um dieser selbst willen Gutes wünschen, sind am meisten Freunde.“[5] Der Unterschied zwischen guten und schlechten Freunden ist, dass man sich an dem anderen erfreut. „Man schließt nämlich nicht Freundschaft mit Menschen, an denen man sich nicht erfreut. Daher werden junge Menschen schnell Freunde, alte hingegen nicht.“[6]

Die drohende Gefahr echter Freundschaften liegt in ihrer ungeprüften Verfügbarkeit. Likes und Herzchen verführen, Freunde dort zu sehen, wo keine sind. Das Erwachen ist schmerzhaft: Einsamkeit statt Nähe. Inmitten von Menschen einsam zu sein, ist bitter. Noch bitterer ist die Erkenntnis, dass es keinen kümmert. „Lonely is not being alone, it’s the feeling that no one cares.“ Vereinsamung ist kein Mangel an Menschen, die man kennt, sondern an Menschen, denen man wichtig ist. Wollen wir dem entgegenwirken, so sollten wir uns Freunde fürs Leben suchen und nicht für einen flüchtigen Genuss. Doch in Freundschaften muss man investieren. Darum kann man auch nur mit wenigen befreundet sein. Hier gilt: Weniger ist mehr.

Weitere Fragen & Antworten von MoonHee Fischer finden Sie hier.

Sie haben eine Frage? Schreiben Sie an m.fischer@ursachewirkung.com

Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel 


[1] Vgl. Deutscher Bundestag Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten https://www.bundestag.de/resource/blob/833538/3db278c99cb6df3362456fefbb6d84aa/19-13-135dneu-data.pdf, Stand: 31.10.2023.

[2] Stern Allein, Allein: Wie Nutzung der sozialer Medien uns einsam macht https://www.stern.de/neon/studie-belegt--soziale-medien-machen-ihre-nutzer-einsam-7355770.html, Stand: 31.10.2023.

[3] Vgl. DGPPN Warnsignale der Psyche erkennen, Suizide verhindern https://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2018/welttag-der-suizidpraevention.html, Stand: 31.10.2023.

[4] Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 2011, 256.

[5] Ebd.

[6] Ebd. 261.

Dr. phil. MoonHee Fischer

Dr. phil. MoonHee Fischer

„Was eines ist, ist eines. Was nicht eines ist, ist ebenfalls eines.“ (Zhuangzi) Jenseits eines dualistischen Denkens, im Nichtgeist, gibt es weder das Eine noch ein Anderes. Wo das Eine sich von einem Zweiten abgrenzt, ist keine Einheit, sondern Zweiheit. Die Erfah-rung des Einen – ich bin al...
Kommentare  
# Anna Zen 2023-12-15 18:35
Freundschaft: Ein fragiler Wert in der digitalen Welt.
Ich habe eine FragE: Dualität 'Eines' und 'Nicht-Eines'?"
In meiner Sichtweise des Zen betrachte ich die Dualität des "Eines" und "Nicht-Eines" als eine Herausforderung, die Alltagsrealität mit der philosophischen Tiefe des Zen zu verbinden. Ich suche nach einer Interpretation, die die Essenz des Zen in Bezug auf diese Dualität reflektiert und wie sie sich in unserer täglichen Erfahrung manifestiert.
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# MoonHee 2023-12-28 16:07
Liebe Anna,
herzlichen Dank für den Kommentar. Ist ihre Frage: Wie gelebte Einheit in einem dualistischen Alltag möglich ist? Herzliche Grüße MoonHee Fischer
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# Maya Schmied 2023-12-15 18:37
Einfluss der 'Leerheit des Herzens' auf das Leben?
"Könnten Sie bitte näher erläutern, wie sich die Konzepte der 'Leerheit des Herzens', wie von Sri Nisargadatta Maharaj beschrieben, sowie die Auswirkungen der sozialen Medien auf die alltägliche Erfahrung und das individuelle Bewusstsein verbinden? Insbesondere interessiert mich, wie diese modernen digitalen Plattformen die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen und ob Sie glauben, dass sie das Gefühl der Einsamkeit verstärken oder sogar zu einer gesteigerten sozialen Isolation führen können. Zusätzlich dazu würde mich Ihre Sichtweise darauf interessieren, wie Menschen in einer zunehmend vernetzten, aber dennoch isolierten Welt wahre Begegnungen und eine tiefere gegenseitige Verbundenheit erreichen können, wenn diese sozialen Medien oft die Illusion von Freundschaft und Verbundenheit erzeugen, ohne die tatsächliche Intimität und emotionale Nähe zu bieten, die für die Entwicklung echter, tiefer Freundschaften notwendig sind.
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# MoonHee 2023-12-28 16:08
Liebe Frau Schmied,
lieben Dank für ihr Interesse an der "Leerheit des Herzens". Bezieht sich ihre Frage nach der "Leerheit des Herzens“ auf das Leben im Allgemeinen, auf die sozialen Medien oder auf das Individuum? Oder auf unsere Beziehungsfähigkeit an sich? Liebe Grüße MoonHee Fischer
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